Leben – Werk – Edition

Geboren 1905 in Ruse nahe der Mündung der Donau ins Schwarze Meer, wuchs Elias Canetti zuerst dort, dann in Manchester, Zürich und Frankfurt am Main auf, studierte in Wien und begann dort, sich eine Existenz als Schriftsteller aufzubauen. In den 1930er-Jahren erschien sein Roman Die Blendung, und er schrieb seine ersten Theaterstücke Hochzeit und Komödie der Eitelkeit. 1938 musste er emigrieren, lebte bis in die 1970er-Jahre in London, wo er sich vor allem der anthropologischen Studie Masse und Macht widmete. Erfolgreich als Autor von Dramen, aphoristischen Aufzeichnungenund vor allem autobiographischen Büchern wurde ihm 1981 der Nobelpreis für Literatur verliehen. Als er am 14. August 1994 in Zürich starb, hatte er wohlgeordnete Regelungen für seinen Nachlass getroffen mit Sperrfristen, die insbesondere der Rücksichtnahme auf noch Lebende galten.

Mit dem dreißigsten Todestag ist die letzte von ihm verfügte Sperrfrist verstrichen, seine Erben dürfen den Nachlass seit August 2024 nach eigenem Ermessen der Forschung zur Verfügung stellen und publizieren. Der Nachlass des Chronisten, des Erzählers und Dramatikers, des viel gelesenen und zitierten Jahrhundert-Intellektuellen birgt wertvolle Schätze, die nun allmählich gehoben werden dürfen. Die in Zürich ansässige Canetti Stiftung finanziert die Erarbeitung der Zürcher Ausgabe, die als kritische Gesamtausgabe unter besonderer Berücksichtigung der Nachlass-Erkenntnisse konzipiert ist.

Tagebücher

Die letzte Sperre betraf die an Canetti gerichteten Briefe und insbesondere seine Tagebücher. Vor allem der Zugang zu letzteren wird mit Neugier erwartet, zumal der Autor bereits sechzigjährig ausführlich über dieses Genre seines Schreibens Auskunft gegeben hat:

Es wäre für mich schwer, mit dem weiterzukommen, was ich am liebsten tue, wenn ich nicht manchmal ein Tagebuch führte. Nicht dass ich diese Niederschriften verwende, sie sind nie der Rohstoff zu dem, woran ich eben arbeite. Es ist aber so, dass ein Mensch, der die Heftigkeit seiner Eindrücke kennt, der jede Einzelheit jedes Tages so empfindet, als wäre es sein einziger Tag, der – man kann es nicht anders sagen – recht eigentlich aus Übertreibung besteht, der aber auch diese Anlage nicht bekämpft, weil es ihm um das Herausheben, um die Schärfe und Konkretheit aller Dinge zu tun ist, die ein Leben ausmachen, – es ist so, dass ein solcher Mensch explodieren oder sonstwie in Stücke gehen müsste, wenn er sich nicht an einem Tagebuch beruhigte. (…) Mit der Beruhigung als einer Funktion des Tagebuchs ist es, wie man sieht, nicht gar so weit her. Es ist eine Beruhigung des Augenblicks, der momentanen Ohnmacht, die den Tag für die Arbeit klärt, nicht mehr. Auf die Dauer gesehen hat das Tagebuch genau die umgekehrte Wirkung, es erlaubt einem die Einschläferung nicht, es stört den natürlichen Verklärungsprozess einer Vergangenheit, die sich selbst überlassen bleibt, es hält einen wach und bissig.

Canetti schrieb dies 1965 in seinem Essay »Dialog mit dem grausamen Partner« ein Jahrzehnt vor seinen satirischen Charakterskizzen Der Ohrenzeuge und den autobiographischen Büchern, die aus der Erinnerung schöpfen. Sein Credo, wonach Tagebücher ihm nicht als literarischer »Rohstoff« dienen, wird von keinem dieser Bücher widerlegt. Seine Bereitschaft zur Bissigkeit allerdings ist auch dort sichtbar, die vermeintlich zwingende Verklärung tut seiner Glasklarheit keinen Abbruch. Auch scheint ihm immer bewusst gewesen zu sein, wie verletzend er sein konnte. Bei einem Band seiner Erinnerungen musste er für den Nachdruck der Erstausgabe ein Kapitel zurückziehen, nachdem eine Leserin die lebhafte Schilderung ihrer Familie als beleidigend empfunden hatte. So ist es nicht verwunderlich, dass Canetti im Alter besorgt war, mit seinen Schilderungen Lebenden zu nahe zu treten, und er verhängte eine achtjährige Sperrfrist, während der der Nachlass nicht wissenschaftlich bearbeitet und nichts daraus gedruckt werden durfte, und zusätzlich die erwähnte dreißigjährige Sperrfrist für Briefe und für seine Tagebücher, die er von den Aufzeichnungen (von denen er mehrfach Auswahlen veröffentlichte), abgrenzte:

Canetti hat keine Verbrennung angeordnet, hat keinen Nachlassverwalter bestimmt. Es obliegt den Erben, nach Ablauf der Sperrfristen verantwortungsbewusst mit dem Nachlass umzugehen. 2014 wurde mit dem Buch gegen den Tod Canettis Annäherung an das von ihm beabsichtigte, aber nie fertiggestellte Dokument seiner Todfeindschaft publiziert. In mehreren Ausgaben sind Briefe von ihm zu lesen, was bereits jetzt dazu beiträgt, ein differenzierteres Bild zu gewinnen, als er selber es von sich zeichnen wollte und konnte. Unter dem Titel Party im Blitz sind Canettis England-Erinnerungen im Druck erschienen, die stilistisch an die drei autobiographischen Bücher anschließen, als postume Veröffentlichung aber nicht der Selbstzensur des Autors unterworfen waren wie Die gerettete Zunge, Die Fackel im Ohr und Das Augenspiel. Diese werden, ebenso wie Der Ohrenzeuge und alle anderen Bände der ab Juli 2025 erscheinenden kritischen Zürcher Ausgabe Anhänge erhalten, die ergänzend aus dem Nachlass schöpfen. Canettis Bekenntnis zum Dialogischen und seine rücksichtsvolle Weichenstellung für den Umgang mit dem Nachlass ermöglichen es, ihn mit zeitlichem Abstand in seinen verschiedenen, auch widersprüchlichen Facetten zu lesen.

Im Tagebuch spricht man also zu sich selbst. Aber was heißt das? Wird man faktisch zu zwei Figuren, die ein regelrechtes Gespräch miteinander führen? Und wer sind die Zwei? Warum sind es nur Zwei? Könnten es nicht, sollten es nicht viele sein? Warum wäre ein Tagebuch wertlos, in dem man immer zu vielen spräche statt zu sich? Der erste Vorteil des fiktiven Ich, an das man sich wendet, ist, dass es einen wirklich anhört. Es ist immer zur Stelle, es wendet sich nicht ab. Es heuchelt kein Interesse vor, es ist nicht höflich. Es unterbricht einen nicht, es lässt einen ausreden. Es ist nicht nur neugierig, es ist auch geduldig. Ich kann hier nur aus eigener Erfahrung sprechen: aber ich bin immer wieder erstaunt, dass es jemand gibt, der mich so geduldig anhört wie ich andere. Doch stelle man sich ja nicht vor, dass dieser Hörer es einem leichtmacht. Da er den Vorzug hat, einen zu verstehen, kann man ihm auch nichts vormachen. Er ist nicht nur geduldig, er ist auch bösartig. Er lässt einem nichts durchgehen, er durchschaut alles.